Foto: © Ger­di­en Jonker

Inhaltsverze­ich­nis
Islamis­che Mis­sion ver­sus Britis­che „Zivil­isierungsmis­sion“  |  Die Ver­wal­tung der Berlin­er Mis­sion­s­ge­meinde | Die Sicherung des Archivgutes | Lit­er­aturverze­ich­nis  | Kor­re­spondierende Archive  |  Zum Weit­er­lesen

1924 eröffnete die islamis­che Reform und Mis­sions­be­we­gung Ahmadiyya, die ihren Sitz in Lahore hat­te, eine Moschee in Berlin. Die Ahmadiyya war um 1900 ent­standen aus dem Bestreben her­aus, den Islam gegen die Angriffe britis­ch­er Mis­sion­are zu vertei­di­gen. Der Grün­der, Mirza Ghu­lam Ahmad (1838–1908) präsen­tierte sich als Erneuer­er des Jahrhun­derts (Mujad­did). Wie der his­torische Jesus emp­fange auch er göt­tliche Einge­bun­gen (Wahy), sei der Mes­si­ah, der am Ende der Zeit wiederkehre, um die Mus­lime aus ihrer bedrängten Lage zu ret­ten. Er sei ein Prophet im Schat­ten des Propheten (Zil­li Nabi), der der mus­lim­is­chen Welt ihr Selb­stver­trauen wiedergeben und die islamis­che Tra­di­tion für die neue Zeit fit machen wolle. Für ortho­doxe Mus­lime war das inakzept­abel. Dabei geht jedoch oft ver­loren, dass Mirza Ghu­lam Ahmad seine Argu­mente vor dem Hor­i­zont ein­er beschle­u­nigten Glob­al­isierung entwick­elte. Diese brachte nicht nur die mis­sion civil­isatrice der europäis­chen Großmächte vor die eigene Haustür, son­dern auch neue Möglichkeit­en der Kom­mu­nika­tion und damit Zugang zu einem Wis­sen, das vieles, was bis dahin als unver­rück­bar gegolten hat­te, hin­ter­fragte. Mirza Ghu­lam Ahmad war zwar der englis­chen Sprache nicht mächtig, er ver­stand es trotz­dem, die Schwächen des Chris­ten­tums anzuprangern und ihre Mythen zu hin­ter­fra­gen. Man kön­nte sagen: Er gab sich als Konkur­rent auf Wel­tebene (Jonker 2016).

Mit dem Bau ein­er Moschee in Berlin ermöglichte die Ahmadiyya in der Zwis­chenkriegszeit einen inten­siv­en Aus­tausch zwis­chen Mus­li­men aus Britisch-Indi­en und deutschen Leben­sre­formern. Die Zeit war kurz. 1923 kam der erste Mis­sion­ar am Bahn­hof-Zoo an. 1939 wurde der let­zte des Lan­des ver­wiesen. Erst 1947 nahm das Mut­ter­haus in Lahore den Betrieb wieder auf.

Die ersten drei Ahmadiyya Mis­sion­are, Maul­vi Sadrud­din (1923–1926), Abdul Fazlul Khan Dur­rani (1926–1928) und Sheikh M. Abdul­lah (1929–1939) hat­ten rege Kon­tak­te zum religiösen Exper­i­men­tier­feld der deutschen Leben­sre­form, vor allem zur Theoso­phie, dem deutschen Bud­dhis­mus und der jüdis­chen Refor­mge­meinde unter­hal­ten. Die Kon­ver­titenge­meinde, die sich unter ihrer Ägide formierte, rekru­tierte sich aus diesen Kreisen.

Zwis­chen 1939 und 1947 hielt Alexan­d­ri­na Ami­na Mosler-Beine, die Frau eines Berlin­er Zah­narztes, die 1937 zum Islam kon­vertiert war, die Berlin­er Moschee offen. Ami­na Mosler ver­stand sich als “Preußin und Mus­lim­in” und nach dieser Maxime han­delte sie. In den ersten Kriegs­jahren fand sie immer wieder Wege, um mit dem Mut­ter­haus in Lahore Kon­takt zu hal­ten. 1942, als Deutsch­land endgültig von der Außen­welt abgeschnit­ten war, wandte sie sich an Muhammed Amin Al-Hus­sei­ni, den Groß­mufti von Jerusalem, der auf Ein­ladung des Nazi-Regimes in Berlin weilte, und über­gab ihm die Schlüs­sel der Moschee. For­t­an war es Al-Hus­sei­ni, der die Fre­itagspredigt hielt. Er empf­ing große Grup­pen mus­lim­is­ch­er Kriegs­ge­fan­gener, die in Zossen in mus­lim­is­che SS-Reg­i­menter eingegliedert wor­den waren. Nach­dem Al-Hus­sei­ni Ende 1944 nach Süd­deutsch­land geflüchtet war, führte Ami­na Mosler die Moschee durch die Zeit der Bom­bardierung Berlins, unter anderem indem sie die rote sow­jetis­che Flagge auf dem Moscheedach hisste. 1947, als Abdul­lah wieder aus Lahore anreiste, sorgte sie dafür, dass die Moschee Grün­dungsmit­glied in der neu ent­stande­nen  “Arbeits­ge­mein­schaft Kirchen und Reli­gion­s­ge­mein­schaften in Groß-Berlin“ wurde. Mit diesem Schritt wurde die Gemeinde endgültig im öffentlichen religiösen Leben der Stadt ver­ankert. Die Moschee arbeit­ete for­t­an eng mit Chris­ten, Juden und Bud­dhis­ten zusam­men und hat­te Zugang zum Rund­funk und zu den Volkshochschulen.

Bis 1959 behielt Ami­na Mosler die admin­is­tra­tive Leitung über die Moschee. In ihrer 20-jähri­gen Ägide über­nahm zwar eine Rei­he von Ima­men (Al-Hus­sei­ni, SM Abdul­lah, Her­bert Hobohm, Abdul Aziz Khan) die Ver­ant­wor­tung für die Fre­itagspredigten und die jährlichen Id-Feiern. Aber kein­er von ihnen blieb länger als zwei Jahre. Erst mit der Ankun­ft des jun­gen Mis­sion­ars Yahya Butt im sel­ben Jahr änderte sich dieses Muster grundle­gend. Butt über­nahm die tägliche Leitung, schrieb sich an der Freien Uni­ver­sität als Stu­dent ein und zog in der Fol­gezeit ein über­wiegend stu­den­tis­ches Pub­likum an. Zehn Jahre später war er ein stadt­bekan­nter mus­lim­is­ch­er „Stu­den­ten­pas­tor“,  der regelmäßig im Radio zu hören war und neben­bei Lehraufträge an der FU durchführte.

Diese und andere Begeg­nun­gen hin­ter­ließen vielfältige Spuren in der Ver­wal­tung des Moscheeall­t­ags, die sich im soge­nan­nten Moscheearchiv ver­fol­gen lassen. Im Laufe der Zeit ver­staut­en die Ver­wal­ter ältere Unter­la­gen irgend­wo im Mis­sion­shaus der Berlin­er Ahmadiyya-Moschee und das Archiv als Ganzes geri­et aus dem Blick. Als „ver­loren gegan­gen“ aufgegeben, wurde es 2017 wiedergefunden.

Im Fol­gen­den soll darüber berichtet wer­den, welche Mate­ri­alien im Moscheearchiv auf­be­wahrt wur­den. Dafür skizziert der Beitrag zuerst den his­torischen Hin­ter­grund: die Bemühun­gen um religiöse Revi­tal­isierung in Britisch-Indi­en und die translokalen Aktiv­itäten der Ahmadiyya, ein­schließlich ihrer Mis­sion in Berlin. Anschließend wird das Archivgut beschrieben und anhand dessen fest­gestellt, mit welchen Tätigkeit­en die Imame in Berlin die von ihnen vorgeschla­gene religiöse Revi­tal­isierung einzulösen ver­sucht­en. Das Moscheearchiv kön­nte dazu beitra­gen, bess­er zu ver­ste­hen, was deutsche Leben­sre­former (in der Nachkriegszeit Hip­pies und flower pow­er Kinder) und indis­che Reformer einan­der zu sagen hatten.

Islamische Mission versus Britische „Zivilisierungsmission“

Seit den 1830er-Jahren ver­sucht­en christliche Mis­sion­are in Britisch-Indi­en im Dien­ste der west­lichen „Zivil­isierungsmis­sion“ lokale kul­turelle Tra­di­tio­nen mit aggres­siv­en Mit­teln europäis­chen Nor­men anzu­passen (Osterhammel/Petersson 2003:56). Ihre Vorge­hensweise war wenig erfol­gre­ich, son­dern rief vielmehr Wider­stand unter Hin­dus, Sikhs, Bud­dhis­ten und Mus­li­men gle­icher­maßen her­vor. Ob nun in Lahore, Kalkut­ta oder Colom­bo, über­all im Kolo­nial­re­ich übten Reli­gion­s­ge­mein­schaften laut­stark Kri­tik an den Briten und ihrem Lebensstil. Man warf den Kolo­nial­her­ren „Kor­rup­tion“ und „Sit­ten­losigkeit“ vor. Gle­ichzeit­ig ent­standen zahlre­iche religiöse Ini­tia­tiv­en, die bestrebt waren, eigene Tra­di­tion zu revi­tal­isieren und diese so dem britis­chen Zugriff zu entziehen. Organ­i­sa­tions­for­men der christlichen Her­aus­forder­er dien­ten den Reformern der indis­chen Reli­gion­s­ge­mein­schaften dabei dur­chaus als Mod­ell (Tyrell 2004:29–30).

Während im Süden des Sub­kon­ti­nents die Vorschläge der Theo­soph­i­cal Soci­ety Bud­dhis­ten und Hin­dus gle­icher­maßen beflügel­ten (Zan­der 2007:25–32, Bay­ly 2004:328, Linse 2002: 406), bot sich im Nor­den Mirza Ghu­lam Ahmad, Grün­der der Ahmadiyya Bewe­gung, den indis­chen Mus­li­men als Inkar­na­tion Bud­dhas und Jesus’ an. Dabei drehte er die Stoßrich­tung der christlichen Mis­sion um (Jonker 2016: 12–63). Um 1900 bracht­en Schüler seine Botschaft nach Afghanistan, Ostafri­ka und Nieder­ländisch Indi­en. 1923 wurde mit dem Bau der Moschee in Berlin begonnen. Nach dem Vor­bild christlich­er Mis­sio­nen und basierend auf den Erfahrun­gen der Ahmadiyya in anderen Regio­nen der Welt,  ver­sucht­en Ahma­di Mis­sion­are nun mit der deutschen Bevölkerung ins Gespräch zu kom­men. Mit Blick auf die entste­hende glob­ale Welt boten sie Vorträge über aktuelle The­men an, darunter die Reli­gion der Zukun­ft, der Men­sch der Zukun­ft, die Seele als Medi­um zwis­chen „Ost und West“, sowie die Neuord­nung der Geschlechter (Jonker 2018: 94–123).

Die Verwaltung der Berliner Missionsgemeinde

Im Archivgut der Berlin­er Moschee lassen sich die Hand­schriften von vier ver­schiede­nen Ver­wal­tern aus­machen. Es sind dies Imam S.M. Abdul­lah (1928 — 1940), die Kon­ver­titin Alexan­d­ri­na Ami­na Mosler (1940 — 1960), Imam Yahya Butt (1959 — 1989) und Imam Chaudry (1989 — 2004). Muham­mad Aman Hobohm, der von 1949 bis 1954 als Imam bestellt war, über­ließ die Ver­wal­tung Frau Mosler. Von ihm wurde lediglich eine Kiste mit Ren­ovierung­sun­ter­la­gen und Entwür­fen für eine neue Zeitschrift über­liefert. Spuren der bei­den ersten Mis­sion­are, Sadr Uddin (1923 — 1926) und Khan Dur­rani (1926 — 1928), lassen sich hinge­gen nicht mehr find­en. Die Sprache der Ver­wal­tung war deutsch. Nur die Kor­re­spon­denz mit dem Mut­ter­haus in Lahore wurde in Urdu geführt.

Für den Erfolg der Mis­sion der Ahmadiyya in Europa wurde eine eigene Über­set­zung des Korans ins Deutsche als zen­tral erachtet. Gle­ich nach sein­er Ankun­ft fing Sadr Uddin an, den ara­bis­chen Grund­text ins Englis­che zu über­tra­gen, während Hugo Mar­cus, ein Berlin­er, der 1923 bere­its zum Islam kon­vertierte, den englis­chen Text ins Deutsche über­set­zte. Ihre Über­set­zung ging erst 1939, kurz vor Kriegsan­fang, in den Druck. In der Moschee­bib­lio­thek ste­hen noch Exem­plare dieser Über­set­zung, aber nach ihren Noti­zen und Typoskripten sucht man verge­blich. Dafür fand sich ein groß­for­matiges gebun­denes Heft, das im Juli 1939 ein­gerichtet wurde und die Käufer von Exem­plaren des Korans in deutsch­er Sprache mit Datum und Adresse ver­merk­te. Die Ein­tra­gun­gen zeigen, dass die Verkäufe bis tief in den Krieg hinein fort­ge­set­zt wurden.

Eine Seite aus dem Heft mit den Koranverkäufen im Archiv der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 1: Eine Seite aus dem Heft mit den Koranverkäufen

Sadr Uddins Nach­fol­ger Sheikh Muhamed Abdul­lah stellte die Ver­wal­tung auf eine method­is­che Grund­lage. So instal­lierte er unter anderem Ord­ner mit Vor­la­gen für die Moslemis­che Revue, die hau­seigene Mis­sion­szeitschrift, welche wiederum aus den wöchentlich stat­tfind­en­den und eben­falls gesam­melten Vorträ­gen schöpfte. Von diesen Doku­menten über­lebten den Krieg nur einige wenige Bruch­stücke auf dem Boden ein­er Kiste, in der über die Jahre hin­weg alte Haushalt­geräte gelagert wur­den. So ging zwar für die nach­fol­gen­den Imame das Wis­sen um die Aktiv­itäten der Vorgänger ver­loren. Wegge­wor­fen wurde aber nichts: auch diese Kiste fand sich schließlich im Keller wieder.

Für den Erfolg der Lahore-Ahmadiyya Bewe­gung in Indi­en waren Nachricht­en über den Fort­gang der Berlin­er Mis­sion von zen­traler Bedeu­tung. Aus diesem Grund erstat­teten die Mis­sion­are in Berlin dem „Mut­ter­haus“ in Lahore regelmäßig Bericht, über­set­zten zen­trale Beiträge der Berlin­er Debat­te in Urdu und Englisch, und stell­ten ihrem indis­chen Pub­likum die wichtig­sten Kon­ver­titen vor. Ord­ner wur­den angelegt und füll­ten sich mit Durch­schlä­gen von handgeschriebe­nen Briefen in Urdu; mit Typoskripten von Über­set­zun­gen für die in Lahore erscheinen­den Zeitschriften The Light (in Englisch) und Paigham-e-Sulh (in Urdu), sowie mit Fotos und Kurzbi­ogra­phien von in Deutsch­land gewonnenen „neuen Muslimen“.

Zum Auf­trag der Mis­sion­are gehörte es, neben der regelmäßi­gen Predigt, auch den ständi­gen Kon­takt zu Reli­gion­s­ge­mein­schaften zu pfle­gen, die sich offen für reli­gious progress zeigten. Einige Doku­mente, die irgend­wann in eine Kiste geschüt­tet wur­den um Platz für Neues zu schaf­fen, weisen in Rich­tung Jüdis­che Refor­mge­meinde und Bud­dhis­tis­ches Haus in Berlin.

Der Kern der Arbeit wurde indes in dick­en Leit­zord­nern abge­heftet, die mit „Neue Mus­lime“ beschriftet wur­den und noch immer im Büro des heuti­gen Imams ste­hen. Auf Nach­frage gab er an, mit Ord­nern zu arbeit­en, die 1959 begonnen wur­den. Diese Ord­ner sind ein Beispiel eines lebendi­gen Archivs. Sie zeu­gen eben­falls von dem großen Inter­esse, auf das die Mis­sion in der deutschen Bevölkerung stieß. Demge­genüber geben Aus­trit­tbescheini­gun­gen aus Kirchen- und Syn­a­gogen­reg­is­tern, die sich wiederum vere­inzelt im Keller wieder­fan­den, einen Ein­druck von den bürokratis­chen Prozessen, mit denen sich Chris­ten wie Juden aus ihren alten religiösen Bindun­gen lösten.

Neben dem Über­tritt zum Islam stand in dieser Moschee auch die interkul­turelle Heirat hoch im Kurs. Davon zeu­gen wiederum andere Heirat­sor­d­ner im Büro des Imams. Erste Ein­blicke in diese Prax­is ver­schafft ein Kon­vo­lut, das 1959 begonnen und 1973 abgeschlossen wurde. In diesem Zeitraum trat­en 194 Paare mit der Bitte um Seg­nung an den Imam her­an. 71 von ihnen hat­ten die Doku­mente ihrer Standesamt­strau­ung bere­its dabei. Andere unterze­ich­neten nur eine Absicht­serk­lärung und wur­den damit beauf­tragt, zunächst eine bürg­er­liche Heirat abzuschließen. Die Män­ner dieser Paare stammten über­wiegend aus islamis­chen Län­dern, während die Frauen über­wiegend aus Deutsch­land kamen. In 43 Fällen lag für die Frau ein Doku­ment bei, das ihren Über­tritt zum Islam bezeugte. In nur eini­gen weni­gen Doku­menten find­et sich ein Ver­merk über eine spätere Auflö­sung der Heirat. Die Heiratsmit­gift betrug in der Regel von 5000 DM oder mehr, ein für die Zeit sehr großen Betrag. In den Fotoal­ben, welche jed­er Mis­sion­ar anlegte, lässt sich gut nachver­fol­gen, dass die Ahmadiyya-Gemeinde stets wohlsi­tu­ierten Kreisen entstammte.

Eine Heiratsgesellschaft vor der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 2: Eine Heirats­ge­sellschaft vor der Moschee. In der Mitte des Bildes: das frisch ver­heiratete Paar Shahi­di aus Lahore und Hilde Scharf aus Berlin. Zweit­er von links: Imam Abdul­lah (Fotoal­bum Abdul­lah 1928)

In Berlin sahen sich die Mis­sion­are auch mit den deutschen Vere­insstruk­turen und dazu gehöri­gen Bericht­spflicht­en kon­fron­tiert. Nach langer Vor­bere­itung wurde 1930 die Deutsch-Moslemis­che Gesellschaft (DMG) gegrün­det und als Vere­in einge­tra­gen. Laut Satzung sollte sie die Fre­und­schaft zwis­chen Mus­li­men und Deutschen befördern. In der Prax­is gestal­tete die Gesellschaft die Arbeit in der Moschee sowohl unter Gesicht­spunk­ten der mus­lim­is­chen Mod­erne als auch der deutschen Leben­sre­form. Dieses Zusam­menge­hen zweier Bewe­gun­gen schlug sich eben­falls im Archiv nieder. Neue Ord­ner wur­den angelegt für Pläne und Berichte, die Vere­inssatzung und die Mit­gliederlis­ten. Die per­sön­lichen Foto­samm­lun­gen des Imam Abdul­lah geben auch Auskun­ft über das gesel­lige Zusam­men­leben von Indern und Deutschen, die sich neben dem intellek­tuellen Aus­tausch, gerne auch mit Ten­nis, Rud­ern und Wan­dern beschäftigten.

Eine Tennisgesellschaft im Garten der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 3: Eine Ten­nis­ge­sellschaft im Garten der Moschee. Von links nach rechts: Muhammed Sayyid Abd-el-Aal, Ehe-mann der neben ihm ste­hen­den Irma Gohl, NN, Imam Abdul­lah (Fotoal­bum Abdul­lah 1929).

Mitte der 1930er Jahre verk­lagten ara­bis­che Mus­lime in Berlin, denen diese gemein­samen Aktiv­itäten sus­pekt vorka­men und die sie als „unis­lamisch“ ver­teufel­ten, die Mis­sion­are und ver­sucht­en, die Moschee an sich zu reißen. Dabei bemüht­en sie sich auch, die Nazis auf ihre Seite zu ziehen, was aber nicht gelang. Auch die Gericht­sprozesse, die sich daraus ergaben, wur­den archiviert.

Imam Abdul­lah war es auch, der eine eigene Moschee­bib­lio­thek ein­richtete. Während des Krieges wur­den die Büch­er zum Schutz vor Bombe­nan­grif­f­en in einem Seiten­z­im­mer im Keller unterge­bracht. Daraus sind sie später wohl nie mehr her­vorge­holt wor­den. So ent­stand ein in sich geschlossenes, zeitlich begren­ztes Kon­vo­lut. Diese Bib­lio­thek muss eben­falls zum Moscheearchiv gerech­net wer­den, eben weil sie präzise Aus­sagen über Lesein­ter­essen in der Zwis­chenkriegszeit erlaubt und ein Bild davon ver­mit­teln kann, was der Imam „sah“.

Wie in jed­er Moschee­bib­lio­thek üblich, nutzte Abdul­lah die Abteilung VIII (römisch 8) um Infor­ma­tion über das unmit­tel­bare Umfeld der Moschee einzu­holen. Konkret trug er hier aktuelle Pub­lika­tio­nen über Theoso­phie und Leben­sre­form zusam­men. Neben der Zeitschrift Theosophis­ches Leben und den Schriften Krish­na­mur­tis find­et man hier Büch­er über Yoga, den ‚uni­ver­salen Sufis­mus’, Frauen­bil­dung, Schul­re­form, Veg­e­taris­mus, oder auch die Meth­o­d­en natür­lich­er Kreb­s­be­hand­lung des schwedis­chen Leben­sre­form­ers Ari Waer­land. Mitte der 1930er kamen „Berichte junger Men­schen aus Palästi­na“ und das „Palästi­na ABC“ hinzu, was darauf hin­weist, dass der Imam bzw. die Moschee jüdis­che Besuch­er über Auswan­derungsmöglichkeit­en nach Palästi­na informierte. Die let­zten Büch­er, die Abdul­lah erwarb, waren der Nazi-Per­spek­tive auf den Islam gewid­met (u.a. Otto Krantz, Das Schw­ert des Islam, 1939).  Als er schließlich im Okto­ber 1939 abreiste, wurde seine Samm­lung geschlossen.

1946 startete Frau Mosler, die über den Krieg hin­weg die Moschee offen gehal­ten und ihre Schätze so gut wie möglich geschützt hat­te, Aufrufe im RIAS, um die in Deutsch­land verbliebe­nen Mus­lime aus­find­ig zu machen. Auch ihre mit Bleis­tift geschriebene Adressen­liste (lediglich vier aus einem Schul­heft geris­sene Seit­en) fand sich unter den Archiv­doku­menten. Sie ist ein wichtiges Zeug­nis, zeigt sie doch, wie viele und welche Mus­lime während des Krieges in Deutsch­land blieben. Die Tat­sache, dass ihre Adressen in den besten Wohnge­gen­den Berlins (Wilmers­dorf, Friede­nau, Zehlen­dorf) lagen, weist darauf hin, dass es Ihnen dabei gut gegan­gen war.

Adressenliste von 1946 aus dem Archiv der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 4: Adressen­liste von 1946. Fün­fter von oben ist Dr. Mohd Helmy, der Arzt, der seine jüdis­che Prax­ishelferin vor der Gestapo ver­steck­te (Steinke 2017)

Achtzig Jahre lang stapel­ten sich so die Ord­ner und Kisten, bis die Moschee 2004 geschlossen wurde. Da lagerte bere­its ein großer Teil der Admin­is­tra­tions­doku­mente im Keller. Yahya Butt hat­te schon bei Dien­stantritt 1959 die Vorkrieg­sor­d­ner, die den Krieg über­lebt hat­ten, in Kar­tons geleert, diese im Keller gestapelt und nach und nach mit Haushaltsmüll aufge­füllt. Der let­zte Ver­wal­ter Imam Chaudry stellte, als er fort­ging, die restlichen Ord­ner in Wand­schränke und ver­stellte diese mit Bücher­re­galen. Was über­all sicht­bar ste­hen blieb und die Zim­mer ger­adezu ver­stopfte, waren Kar­tons mit religiösen Trak­tat­en, einst das wichtig­ste Mit­tel zur Ver­bre­itung der  Mis­sions­botschaft der Ahmadiyya. Mit dem Ein­tritt ins Inter­net­zeital­ter gab es für sie keinen Bedarf mehr.

Blick in den Keller des Missionshauses
Abb. 5: Blick in den Keller des Mis­sion­shaus­es. © Ger­di­en Jonker
Blick in den Schlafzimmerschrank des Missionshauses der Ahmadiyya
Abb. 6: Blick in den Schlafz­im­mer­schrank des Mis­sion­shaus­es. © Ger­di­en Jonker
Kartons mit religiösen Traktaten im Empfangszimmer des Imams der Wilmersdorfer Moschee
Abb. 7: Kar­tons mit religiösen Trak­tat­en im Emp­fangsz­im­mer des Imams. © Ger­di­en Jonker

Die Sicherung des Archivgutes

Mit Blick auf den nahen­den 100. Geburt­stag wer­den die Moschee und das Ver­wal­tung­shaus gegen­wär­tig ren­oviert. Dabei kam 2017 das gesamte Moscheearchiv wieder zum Vorschein. Teile des Archivgutes waren zwar in der Ver­gan­gen­heit mit Wass­er in Berührung gekom­men und hat­ten dementsprechend Schaden genom­men. Der größte Teil aber, der in Wand­schränken weggeschlossen wurde, befand sich in einem bemerkenswert guten Zus­tand. Beim sukzes­siv­en Auffind­en ließ sich fest­stellen, dass es sich um ca. 14 Meter archiviert­er Doku­mente – darunter ca. 100 Ord­ner und etliche Papier­stapel — han­delt. Nach erster Sich­tung des Bestandes ist von ca. 70.000 Archiva­lien auszugehen.

Den wichtig­sten Fun­dort bilde­ten die Ein­bauschränke im Haus neben der Moschee. Im Schlafz­im­mer­schrank stießen wir auf einen erhe­blichen Teil des Vorkriegsarchivs. Ein Dop­pelschrank im Büro offen­barte das Nachkriegsarchiv von 1959 bis 2004. Als schließlich der Keller entrüm­pelt wurde, kam der größte Fund zum Vorschein. Hier befan­den sich das Kriegsarchiv, die Kor­re­spon­denz mit dem Mut­ter­haus in Lahore, Doku­mente über Kirchen- und Syn­a­gogen-Ausstritte, Kisten voller Mis­sion­strak­tate aus 100 Jahren, Bauord­ner, welche die zahlre­ichen Teil­ren­ovierun­gen doku­men­tieren (die Moscheekup­pel und die Minarette wur­den bei Kriegsende zer­stört), sowie Ord­ner mit Vere­in­sun­ter­la­gen und Kor­re­spon­den­zen mit dem Registeramt.

Nun ist Archivgut, in welchen Zus­tand auch immer, noch kein Archiv. Wie die Admin­is­tra­tion von Fußbal­lvere­inen, Sprach­schulen, Orch­estern oder Heimatvere­inen, so ist auch die Reg­i­s­tratur ein­er religiösen Vere­ini­gung Pri­vatbe­sitz. Das bedeutet, dass sie nicht öffentlich ein­se­hbar ist, auch wenn es sich um Mate­r­i­al han­delt, das bald ein­hun­dert Jahre alt ist und lange ver­nach­läs­sigt herumgele­gen hat. Der erste Schritt zur Zugänglich­machung war daher die Kon­tak­tauf­nahme mit dem Lan­desarchiv Berlin. Der zweite Schritt erfol­gte im Sep­tem­ber 2018, als der Vor­stand der Ahmadiyya Organ­i­sa­tion aus Lahore und Eng­land anreiste, um mit dem Lan­desarchiv Berlin einen Ver­trag über die Sicherung des Archivgutes abzuschließen. Als drit­ten Schritt reichte das Erlanger Zen­trum für Islam und Recht in Europa einen Förder­antrag bei der DFG ein um eine Archiv-Sys­tem­atik  zu entwick­eln und den Fund ein­er ersten Unter­suchung zu unterziehen. Die Bewil­li­gung ste­ht zwar noch aus, Ziel ist es den­noch, das Moscheearchiv der Lahore-Ahmadiyya in Berlin im Jahr 2021 im Lan­desarchiv Berlin aufzustellen und von da an öffentlich zugänglich zu machen. Bis dahin müssen Inter­essen­ten sich noch gedulden. Forsch­er, die sich für Glob­al­isierungs­geschichte, islamis­che Reform, deutsch-indis­che Beziehungs­geschichte oder die Geschichte der Leben­sre­form inter­essieren, erwartet dann jedoch ein großer Schatz.

Literaturverzeichnis

Bay­ly, Christo­pher A., The Birth of the Mod­ern World 1780–1914. Oxford: Black­well, 2004.

Jonker, Ger­di­en,  The Ahmadiyya Quest for Reli­gious Progress. Mis­sion­iz­ing Europe 1900 – 1965. Lei­den: EJ Brill, 2016.

Jonker, Ger­di­en, ‚Etwas hof­fen muß das Herz.’ Eine Fam­i­liengeschichte von Juden, Chris­ten und Mus­li­men. Göt­tin­gen: Wall­stein, 2018.

Linse, Ulrich, „Theoso­phie III. Theosophis­che Gesellschaft (ab 1875)“. In: Ger­hard Krause, Ger­hard Müller (Hg.) The­ol­o­gis­che Realen­zyk­lopädie, Bd. 33. Berlin: De Gruyter, 2002.

Oster­ham­mel, Jür­gen, Niels P. Peters­son, Geschichte der Glob­al­isierung. Dimen­sio­nen. Prozesse. Epochen. München: Beck, 2003.

Steinke, Ronen. Der Mus­lim und die Jüdin. Die Geschichte ein­er Ret­tung in Berlin. Berlin: Berlin-Ver­lag, 2017.

Tyrell, Hart­mann, „Welt­ge­sellschaft, Welt­mis­sion und religiöse Organ­i­sa­tio­nen“. In: Artur Bogn­er, Bernd Holtwick, Hart­mann Tyrell (Hg.) Welt­mis­sion und religiöse Organ­i­sa­tio­nen. Würzburg: Ergon, 2004.

Zan­der, Hel­mut, Anthro­poso­phie in Deutsch­land. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht, 2007.

Korrespondierende Archive

Das Mut­ter­haus der Lahore-Ahmadiyya Organ­i­sa­tion in Lahore bemüht sich im Augen­blick die Doku­menten­lage auf ihrer Seite zu sicht­en und zu digitalisieren.

Die Ver­wal­tung der Ahmadiyya-Moschee in Wok­ing (GB), die von 1913 bis 1965 im Besitz der Lahore-Ahmadiyya war, gilt als verschollen.

Zum Weiterlesen

aaiil.org – offizielle Web­site der Lahore-Ahmadiyya Bewe­gung zur Ver­bre­itung islamis­chen Wissens

Agai, Bekim, Umar Ryad and Meh­di Sajid (eds.), Mus­lims in Inter­war Europe — A Tran­scul­tur­al His­tor­i­cal Per­spec­tive. Lei­den: EJ Brill, 2015. Zum Herun­ter­laden: https://brill.com/downloadpdf/title/26701

Ger­di­en Jonker, Erlanger Zen­trum für Islam und Recht in Europa (EZIRE), Friedrich-Alexan­der Uni­ver­sität Erlangen 

MIDA Archival Reflex­i­con

Edi­tors: Anan­di­ta Baj­pai, Heike Liebau
Lay­out: Mon­ja Hof­mann, Nico Putz
Host: ZMO, Kirch­weg 33, 14129 Berlin
Con­tact: archival.reflexicon [at] zmo.de

ISSN 2628–5029